© Evelin Matzke

Das Gnadenbild: Die Pietà - Das Vesperbild vom Kohlhagen

Die sog. Vesperbilder verdanken ihren Namen der Betrachtung der heiligen fünf Wunden des toten Sohnes zur Zeit der Vesper. Gegenstand der Andacht ist aber anfangs nicht so sehr der affektive Schmerz Mariens als vielmehr das Bewusstsein der Vollendung des heilbringenden Leidens, weshalb die Züge Mariens vielfach nicht schmerzzerquält, sondern eher freudvoll erscheinen. In ungezählten Kirchen wurde das Vesperbild zum Gegenstand besonderer Verehrung und gab ihnen den Charakter von Wallfahrtsstätten.

So geschah es auch in Kohlhagen. Vom Gesichtspunkt des genannten freudvollen Ereignisses, ebenso wenig aber auch vom kontroversen Gedanken der Todestrauer aus kann die Platzierung eines Schmerzensbildes in dem prunkvollen und bewegten Barock-Rahmen der Kohlhagener Kirche als befremdend empfunden werden. Vielleicht hat das auch der unbekannte Skulpteur so gesehen, wenn er nämlich die mitunter krassen Attribute des Schmerzes und der Leiden am Leichnam des Herrn vermieden hat, obwohl über der Gruppe tiefer Schmerz und heilige Ergriffenheit liegen. Das drücken die Neigung des Hauptes und ihr Antlitz deutlich aus. In ihren Augen, die in eine imaginäre Ferne schauen, ruht ein Ausdruck, der etwas Faszinierendes, vielleicht Suggestives in sich trägt und den Beter zum tiefen Nach- und Mitdenken, sogar Mitleiden animiert.

Das Besondere der Kohlhagener Pietà liegt in folgenden Auffälligkeiten: Während auch hier Marias rechter Arm die Schultern Jesu umgreift, liegt ihre linke Hand mit abgespreiztem Daumen, Zeigefinger und Ringfinger auf ihrem Herzen. Diese abweichende Darstellung ist nur vom Vesperbild aus der St.-Pauls-Kirche in Eppan bei Bozen, außerdem aus der Kunstliteratur von Landshut her bekannt. Ähnliche Darstellungsformen dieses Details sollen in Salzburg und im süddeutschen Raum vorkommen, auch aus dem seinerzeit starken böhmischen Export stammen. Den so seltenen Handgestus (der drei gekrümmten Finger auf ihrem Herzen) deutet der Brixener Diözesan-Kurator Dr. Leo Andergassen als trinitarisches Symbol, womit gemeint ist, dass Maria auch dieses unerklärliche Geheimnis wie manches andere in die Verwahrtruhe ihres Herzens eingeschlossen hat.

Wenn auch die Herkunft des Eppaner wie des Kohlhagener Bildes ungeklärt ist, lassen einige Stilmerkmale – zum Beispiel ausgeprägte Schüssel-, Tüten-, bzw. Röhrenfalten des Rockes, das Amphorion (Kopf- und Schultertuch), die Thronbank – für die Altersbestimmung eine vorsichtige Zuweisung ins Spätmittelalter, ins frühe 15. Jahrhundert zu.

Das kleine Format fast aller Vesperbilder hängt mit deren Tragbarkeit zusammen. Sie werden wohl ausnahmslos sog. Wanderware gewesen sein. Der Wallfahrer konnte sie aus einem anderen, bekannteren Wallfahrtsort als Devotionalie in seine Heimat transportieren und hier der allgemeinen Verehrung zugänglich machen.

Der Ursprung der Wallfahrten zum Kohlhagen

Die Mystik des Mittelalters förderte ihrem Wesen entsprechend die Wallfahrten. Da man die traditionellen Pilgerorte (Santiago de Compostella, Rom, Trier u.a.) wegen der sehr beschwerlichen weiten Wege und der unruhigen Verhältnisse nicht mehr besuchen wollte, schuf sich das fromme Volk eigene nahegelegene Wallfahrtsorte. Wundertätige Bilder an diesen Orten erfreuten sich deshalb allergrößter Popularität. Diesem Umstand verdankt wohl in hohem Maß die Kirche auf dem Kohlhagen ihre Entstehung und ihre wachsende Beliebtheit.

Eine fromme Legende

So entstand die fromme Erzählung von einem Hirtenjungen, der hier einst, während die Menschen unten im Tal zum Gottesdienst nach Kirchhundem gingen, seine Tiere hütete und dabei ein hölzernes Bild der schmerzhaften Gottesmutter fand. Diese Legende fasst die Entstehungsgeschichte in ein prächtiges Kleid.
So fand der junge Hirte die hölzerne Pietà – so erzählt diese Legende – in einem Holunderbusch, in dem ein Vogel saß, dessen Gesang ihm die Richtung anzeigte. Wie aber war es wirklich? Frühere Generationen hatten ihre eigenen Erklärungsversuche: Abgestellt oder weggeworfen sei sie von jemandem, der sich nicht länger um sie kümmern wollte. Die jetzige Generation stellt diese Frage so nicht. Hauptsache, die Pietà ist da, sie ist hier – für uns. Sie sagen der Gottesmutter ihre ganz menschlichen Anliegen zur Weitergabe an ihren Sohn. Das ist das Geheimnis dieses Ortes.