Dr. Thomas Arnold beschrieb zunächst die Glaubens- und Lebenssituation der Menschen im Osten der Republik. Eine christliche Prägung sei im reflektierten Lebensvollzug für die Menschen kaum noch vorhanden. Sie leben ganz anders – unchristlich. Das sei keine bewusste Entscheidung gegen eine Religion oder Institution wie die Kirchen, sondern die Gottesfrage werde einfach nicht mehr gestellt. Der Erfurter Religionsphilosoph Eberhard Tiefensee habe sie als religiös indifferent bezeichnet.
Es seien eben (wie bei uns im Westen) nicht jene, die noch getauft sind, aber eigentlich desinnteressiert am Wirken der Kirche. Es seien auch nicht jene Atheisten, die sich bewusst gegen Gott entscheiden. Und es seien auch nicht die Agnostiker, die sich einer Stellungnahme enthalten. Sondern es seien jene Menschen, für die Gott als sinnstiftendes Element in ihrem alltäglichen Entscheiden irrelevant ist.
Das bedeutet nicht, dass Religon und religiöse Fragen im Alltag nicht vorkommen würden. Aber sie werden „überlesen“ oder als Informationen aus dem Reich der Zurückgebliebenen abgetan.
Die Gesellschaft solle das aber nicht als defizitär abtun, so Arnold. Für die Art und Weise, wir wir in den kommenden Jahrzehnten in diesem Land das Christsein leben, werde Mitteldeutschland ein Lernort sein. Das Phänomen werde sich flächendeckend ausbreiten, auch im Westen. Noch seien in weiten Teilen der alten Bundesrepublik die Menschen vom Christentum entfremdet. In der nächsten Generation würden sie davon unberührt sein.
Noch nie in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums sei die Religionsgemeinschaft vor die Herausforderung gestellt worden, Christus in Kontakt mit Menschen zu bringen, wo kein Gottesglaube mehr existiere.
Allerdings müsse man folgendes sehen: Auch ohne Gott komme es nicht zu einem Verfall der Wertvorstellungen. „Gottlosigkeit“ bedeute nicht „Sittenlosigkeit“. Selbstverständlich hätten Menschen ohne Gottesglauben auch Wertvorstellungen Und die Kirchen seien weder die einzigen noch die zentralen Werteagenturen einer demokratischen Gesellschaft.
Darüberhinaus könne man feststellen: Auch Areligiöse können feiern, vor allem in den Höhe- und Tiefpunkten ihres Lebens. Schulaufnahme, freie Trauung und die Ansprache bei der Bestattung seien die säkularen Sakramente des 21. Jahrhunderts. Man dürfe sich nicht täuschen: Weil das kirchliche Ritual qualitativ schlecht oder nicht verfügbar sei, weil beispielsweise der Pfarrer gerade im Urlaub sei oder Homosexuelle keine Segnung erhalten dürften, werde rasch und ohne weitere Begründung das säkulare Ritual in Anspruch genommen. Und wer einmal säkulare Riten in Anspruch genommen habe, werde kaum zu kirchlichen Ritualen zurückkehren.
Die größte Provokation aber sei, dass selbst existenzielle Grenzsituationen nicht zu religiöser Ein- und Umkehr führten. Die areligiöse Gesellschaft stelle nicht mehr die Frage nach dem WARUM, sondern nach dem WIE. Das verändere die Perspektive: Wenn der Mensch stirbt, wendet sich der Mensch heute an Mediziner und Psychologen, um das WIE zu erfahren. Wenn die Gesellschaft oder Völker in Krisen gerieten, werden Politikwissenschaftler nach dem WIE gefragt. „Wie ist es dazu gekommen?“ Eine solche Fragestellung biete allerdings keinen Anknüpfungspunkt mehr für religiöse oder metaphysische Überlegungen.
Die alles entscheidende Frage christlichen Agierens in den kommenden Jahrzehnten werde sein, wie Christen akzeptierten, dass die Menschen nach dem WIE fragem und sie dabei trotzdem ihre Fragen nach dem WARUM im Spiel behielten. Zuversicht ohne Gott sei denkbar. Und sie werde für immer mehr Menschen in Deutschland denkbar. Wolle das Christentum in dieser Zeit einen Beitrag zur Heilung der Welt leisten, dann müsse es seine inspirierende geistige Kraft in gesellschaftlichen Fragen einbringen.
Als Christen müssten wir Hoffnungsmacher für die Gesellschaft ausbilden. Hoffnungsmacher müssten nicht zwangsweise an Christus glauben, aber Christen qualifizierten Menschen dazu, mit Zuversicht in diese Welt zu gehen, weil ihre Zuversicht in der Hoffnung auf das Leben nach dem Tod gründe.
Sowohl der Kontinent als auch die Kirche und der Glaube unterlägen einem tiefgreifenden Wandel. Nichts davon werde in zehn Jahren noch so aussehen wie heute. Wer sich zum Volk Gottes zähle, der wisse sich verwurzelt in einer Heilsgeschichte mit Gott. Es gehe darum, so gut wie möglich das Jetzt zu gestalten. Der dem innewohnenden Gedanke ist das Wissen, dass das Leben nach dem Tod mit visio beatifica (seligen Schau) die vollendete Sicht des Wahren, Guten und Schönen ist. Das ist Neuanfang, den man jetzt schon dem Christlichen anmerken sollte, so Arnold.
Das Christentum der Zukunft werde aus Mystikern bestehen, so wie es Karl Rahner bereits vor 80 Jahren formuliert habe: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“ Aber noch viel mehr gelte: Das Christentum dieses Jahrhunderts werde Räume für Heilige entwickeln. Oder es wird nicht sein.
Diese Räume seien spirituelle Zentren, die aber die Vernunft nicht außer acht ließen. Die dem Einzelnen Freiheit ließen, aber um ihre Verantwortung wüssten, dass das Religiöse eine kulturelle Aneignung über Beziehung brauche. Es seien jene Orte, die die Tiefendimension des Glaubens systematisch kultivierten. Es seien jene Orte, an denen Menschen die Chance bekämen, ihr Leben aus einer Hoffnungsperspektive zu deuten, wo sich Religiosität in einen persönlichen Glauben wandle, um nicht zur „Kulturreligion“ zu verkommen.
Das nächste Jahrzehnt könne für das Christentum zu einem Jahrzehnt der Hoffnung werden, wenn es ihm gelinge, Räume zu schaffen, die es anderen ermöglichen, zu Heiligen zu werden. Die Dynamik künftigen Christseins werde leben aus kraftvollen spirituellen Impulsen, gründliche theologischer Reflexion und Mut zu Experimenten, so Thomas Arnold abschließend.